Das große Kommentar.

Von Ralph v. Rawitz
in: „Czernowitzer Tagblatt” vom 31.08.1906


Es war gegen ein Uhr mittags: die siebenundvierzigste Sache wurde vor der Abteilung 2 des Amtsgerichts Althausen verhandelt. Den beiden protokollierenden Referendaren floß der Schweiß über das erschöpfte Angesicht, und Amtsgerichtsrat Schnäbler, der heute die Zivilsitzung abhielt, japste nach Luft: „ Unerhört — seit neun Uhr sitzt man hier — es ist eine Affenschande!”

Um sich einige Erleichterung zu verschaffen, hauchte er die beiden getreuen Referendare an, obwohl gar kein Grund dazu vorlag, denn die Versäumnisse und Anerkenntnisse flogen nur so unter ihren Federn. Besonders aber mußte es einer von den beiden, Dr. Hofer, aushalten: der konnte heute dem Rat gar nichts recht machen, und wäre nicht das Publikum zugegen gewesen, so hätte es wohl gar einen Wortwechsel gegeben. Denn Dr. Hofer ließ sich im Bewußtsein guter Pflichterfüllung nichts gefallen und stand auch nicht mehr sehr weit vor dem Assessor-Examen.

Die Sache 47 dehnte sich endlos — es handelte sich um die wichtige Frage, ob ein Gartenzaun 75 oder 80 Zentimeter hoch war, — die Anwälte redeten mit fabelhafter Zungenfertigkeit, die Parteien riefen dazwischen, der Rat stöhnte. Endlich war die Sache reif zum Erkenntnis, und die ganze Korona lauschte, welches Urteil gefällt werden würde. In diesem Augenblicke erhob sich Schnäbler und sagte folgendes:

„ In Anbetracht der Bedeutung dieses Falles möchte ich doch noch einmal das große Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch einsehen. Gestatten Sie einen Augenblick.”

Sprach's und wandelte zu einem großen Schrank, dessen geöffnete Türen bald den Anblick des Rates dem Publikum entzogen. Hier blieb er eine kleine Weile, und man hörte etwas schluchzen, was gewiß vom Ledereinband des gesuchten Kommentars herrührte. Bald darnach erschien Herr Schnäbler wieder, und nun hatte er sich vorzüglich informiert, daß er sagen konnte:

„ Meine Herren, die Sache wird von Amtswegen vertagt.”

Damit war dieser Fall erledigt, und der nächste kam an die Reihe. — Böse Zungen aber behaupteten, es rieche nach Cherry Brandy. — —

Zwei Stunden später saß der Rat beim Mittagessen mit Gattin und Kindern. Frau Schnäbler hatte zwar einen weichen Kalbsrucken auf dem Tisch gesetzt, den ihr Gemahl sonst mit Vorliebe speiste, aber heute wollte ihm auch diese Lieblingsspeise nicht munden, denn die Rätin hatte mit Nachdruck bemerkt: „Ich habe nachher etwas Ernstes mit dir zu sprechen, Theodor!”

Wenn Frau Emilie so etwas sagte, dann stand entweder eine Badereise, oder eine Gesellschaftsrobe, oder irgend ein anderes auf dem Tapet, was Geld kostete und das die Rätin durchsetzen wollte. Der Rat sann hin und her, was es diesmal sein konnte, fand aber nichts. Die Badereise nach Binz war schon lange vereinbart, die Reisetoiletten hingen schon in den Schränken, ein Hut war erst gestern aus dem Modebazar eingetroffen — also was? —

Als das Dessert aufgetragen war, winkte die Rätin ihren Kindern: „ Ihr könnt jetzt gehen, Margret und Willy! Wünscht dem Papa Mahlzeit und geht auf eure Stube. Wir haben noch etwas zu besprechen.”

Das junge Mädchen, eine reizende Brünette mit großen grauen Augen, küßte der Mutter die Hand und dem Vater die Stirn; dann folgte sie langsam dem Bruder, der wild und lebhaft, wie Fünfzehnjährige sind, aus dem Zimmer stürmte, nachdem er noch vom Büffet eine Handvoll Kirschen gemaust hatte.—

Mit zufriedenem Blick sah der Vater ihr nach, und, als sich die Tür hinter ihr geschlossen, konnte er sich eines Ausrufes stolzer Zufriedenheit nicht enthalten.

Die Rätin lächelte beistimmend:

„Ja, sie ist eine Schönheit, unsere Margaret! Aber das entbindet uns nicht der Pflicht, für ihre Zukunft zu sorgen, so gut wir können.”

„Gewiß nicht, Emilie! Aber ich bitte dich, erkläre dich recht schnell und deutlich ohne Umschweife und Einleitungen. Ich habe heute mehr als fünfzig Sachen gehabt, du begreifst, daß mir der Kopsf brummt. Was ist es also?”

„Lieber Gott — Theodorchen — wenn du müde bist, dann können wir auch ein anderes Mal — —”

„Nein, nein, Emilie! Während des ganzen Essens habe ich gesonnen und gegrübelt, worauf du hinaus willst — meinst du nun lieber Saßnitz als Binz? Oder wie?”

„Seebad hin, Seebad her, Theodor! Eines ist so gut und so teuer wie das andere. Mit solchen Lappalien beschäftige ich mich nicht. Kurz heraus: Margaret kann sich auch hier verloben, es bedarf nicht des Ausputzes und der Inszenierung einer Sommerreise.”

„Hier, Milchen, hier am Ort? Da schlag doch dieser und jener drein, wenn ich raten könnte — oder willst du etwa mir wieder einmal den Kandidaten aufstellen, den ich mit Entschiedenheit abgelehnt habe, diesen Hofer?”

„Eben diesen Hofer, den Dr. jur. Hofer, deinen Referendar, der über Jahresfrist Assessor sein kann und der für einen gescheiten Kopf und wohlhabenden Mann gilt. Ich begreife nicht, was du gegen ihn hast! Andere würden sich um ihn den Pelz zerreißen.”

„Was ich aber hübsch bleiben lasse — er ist ein vorwitziger Mensch, der mir gestohlen bleiben kann. Nie und nimmer! Und wenn ihr euch auf den Kopf stellt, nein, nein, tausendmal nein!” —

Während so der Rat und Frau Emilie disputierten, fand in der Hinterstube ein Gespräch zwischen Bruder und Schwester statt.

„Du, Grete, ich hab' was an dich abzugeben!”

„Du an mich? — Das wird was Schönes sein!” Sie zuckte spöttisch die Achseln. Aber plötzlich wendete sie sich wieder um, und die helle Röte schlug ihr ins Gesichtchen:

„Im Ernst, Willy? — Sei gut, — du bekommst auch zwanzig Pfennige zu Zigaretten?!”

Der Tertianer holte seine Schulmappe, kramte lange zwischen Heften uud Büchern und entnahm endlich der lateinischen Grammatik ein violettes Briefchen.

„Heute früh, als ich zur Schule ging — du weißt, von wem.”

„Gib her!”

„Nö — Zwanzig Pfennige ist zu wenig; unter fünfzig tue ich's nicht.”

„ Willy — sei doch vernünftig — meinetwegen dreißig!”

„ Sagen wir fünfunddreißig — ja? Erst das Geld — da hast du ihn.”

Während Willy mit seinem Raube zum Zigarrenladen sprang, setzte das junge Mädchen sich an ihr Nähtischchen und las folgende Epistel:

„ Liebstes Gretchen,

wie ich es dir versprochen habe, ertrage ich mit Engelsgeduld die Launen Deines Papas. Wenn er mich mit den schrecklichsten Arbeiten überhäuft, lächele ich, wenn er mich andonnert, halte ich stumm wie ein Lamm, wenn er mich schikaniert, bin ich die Resignation in persona. Aber was hilft alles? Unsere Sache, der Deine liebe Mama ihren Schutz angedeihen läßt, kommt keinen Schritt weiter. Ich muß aber die Gewißheit haben, daß ich nach bestandenem Exomen keinen Refus erhalte. Nur diese Gewißheit gibt mir die Ausdauer und den Mut zur großen Staatsprüfung.

Ich bitte Dich nun, entbinde mich des Versprechens, das ich Dir leistete. Gestatte, daß ich Dich erringe, wie und mit welchen Mitteln es mir gut erscheint. Es wird und soll nichts Böses sein! Unser Glück ist die Hauptsache! —

Am Donnerstag hoffe ich Dich beim Tennis zu sehen. Bis dahin lebe wohl und sei tausendmal gegrüßt von Deinem

E. H.”

Sie las den Brief drei- oder viermal, band ihn dann zu anderen Karten und Zetteln mit einem rosa Seidenbändchen zusammen und versteckte ihn unter Kanevas und Wollknäueln in der Tiefe einer Kommode. Dann schrieb sie auf ein Blättchen: „ Ja!&rdquo und legte es in ein Kouvert, das noch am selben Nachmittag durch Vermittlung der Reichspost in die Weite flog. —

Dr. Hofer war selig, als er die kurze und doch so inhaltsreiche Nachricht des angebetenen Mädchens erhielt. Aber bald wich das Lächeln von seinem Gesicht und machte dem Ausdruck der Entschlossenheit und klugen Erwägung Platz.

„Ist's also nichts mit Güte, so muß es mit List gelingen.” sprach er zu sich selbst. „Das steht jedenfalls fest: Margret wird Frau Assessor Hofer!”

Eine halbe Stunde früher als sonst ging er heute nach dem Amtsgericht, wo er mit einem der Diener eine kurze Besprechung hatte.

„Ich habe versehentlich eine wichtige Urkunde gestern in das große Kommentar gelegt, und das hat der Herr Rat eingeschlossen. Ob man den Schrank nicht aufmachen könnte? Sind ja nur Formulare und Bücher drin, nichts Geheimes.”

„Aber natürlich, Herr Referendar, der Herr Sekretär hat ja noch einen zweiten Schlüssel.”

„ Bitte, besorgen Sie mir den — und hier haben Sie 'nen Taler — ich brauche das Aktenstück dringlich, verstanden? —”

Der Schlüssel kam, und Hofer entfaltete einige Zeit eine geheimnisvolle Tätigkeit, bei der zwei Tintenfässer mitwirkten. Dann schloß er sorgsam den Schrank, zog seinen Talar an und harrte seines Vorgesetzten.

Der Rat kam, grimmiger wie je! Nicht nur, daß heute wieder fünfzig Prozesse anstanden, die es zu erledigen galt, die Frau Rätin hatte auch wieder beim Morgenkaffee das Verlobungsgespräch angefangen und kategorisch ihre Meinung gesagt: Er — der Rat — wäre ein Rabenvater, ein Eisenherz, ein unbedachter Gatte und Hausherr. Es sei unbegreiflich, wie ein solcher Mann es bis zum Rat habe bringen können!

Die Verhandlungen begannen. Der Rat donnerte nach allen Richtungen, zu seinen Referendaren, zum Publikum, zu den Anwälten, zum Gerichtsdiener. Namentlich der letzte bekam es ordentlich.

„ Es ist ja kein Tropfen Tinte da, Hinkelmann!”

„ Hab' aber erst gestern eingegossen, Herr Rat!” —

Fünfundzwanzig Sachen waren abgetan, und soeben stand eine interessante Räumungs-Streitsache an, da beschloß Rat Schnäbler, das große Kommentar einzusehen. Majestätisch wandelte er zum Schrank, dessen Flügeltür ihn bald völlig verdeckte. Eine Weile war es still, dann hörte man etwas schlucksen und gleich daraus einen matten Schrei. Ehe noch ein anderer zur Besinnung kam, sprang Dr. Hofer zu seinem Vorgesetzten:

„ Ist Ihnen etwas, Herr Rat?”

Der stand da, sprachlos, kreidebleich. Aber die schwarzen Lippen verrieten deutlich, mit welchem Kommentar er soeben Bekanntschaft gemacht hatte.

Jetzt kamen auch die Anwälte herbei und ein zufällig anwesender Arzt aus dem Publikum.

„Es ist, gottlob, nichts, meine Herren,” sagte Dr. Hofer. „aber es hätte schlimm werden können. Irgend jemand hat unsere Tintenflasche so unglücklich in den Schrank gestellt, daß sie beim Herausnehmen des Kommentars herunterfiel und gerade dem verehrten Herrn Rat ins Gesicht.” —

„So ist es,” sprach Schnäbler aufatmend nnd ein Taschentuch vor das Gesicht haltend, „es wird wohl meine eigene Schuld sein; ich habe die Tinte selbst hineingefüllt. Entschuldigung, ich will mich nur säubern. Herr Referendar Hofer — Sie begleiten mich wohl?”

„ Sehr gern, Herr Rat!” —

Was die beiden miteinander gesprochen, — die Welt hat es nie erfahren. Aber das steht tatsächlich fest, daß Rat Schnäbler seit diesem Morgen den Dr. Hofer für den gewandtesten aller Referendare erklärte, und daß er ein Jahr später beim Hochzeitsmahl seinem Schwiegersohn mit vielsagendem Lächeln zutrank: „ Auf das große Kommentar!”

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